Collettiva
Kuratorinnen
Ying Xu
Das Flicklabor
The Mending Laboratory
Flicken als Praxis der Sorgfalt oder der Willkür?
Ying Xu begann in ihrem Atelier in Feuerthalen fast spielerisch damit, eine neue Technik zu entwickeln: Ausgehend vom japanischen Konzept des Flickens suchte sie nach der Möglichkeit, durch eine Nähtechnik die Schönheit von Blumen oder die Schalen von Früchten länger zu konservieren. Ganz so, als ob es möglich wäre, sie der Zeit zu entziehen oder ihnen eine neue Bedeutung zu geben.
Sie entschied sich für die Verwendung eines roten Fadens, der das Leben symbolisiert, wie das Blut in den Adern. Er ist aber ebenso ein Symbol für das Weibliche und die Geburt. Das Ergebnis dieses Prozesses sind Objekte, die durch den Eingriff des Flickens und den Lauf der Zeit wieder ganz werden oder in ihrer ursprünglichen Form, aber auf ungewöhnliche Weise, fortbestehen.
Die Künstlerin sagt: "Der Grundgedanke dieser Werkserie ist die Umwandlung und Materialisierung der Beziehung zwischen Leben und Zeit. In der östlichen Philosophie glauben wir: Da alles auf der Erde letztlich zur Erde zurückkehrt, ist alles nur eine Frage der Zeit."
Die Werkstatt der Interpretationen
Für die Künstlerin selbst diente diese Technik ursprünglich der Instandhaltung und Pflege der Objekte. Sie interessierte sich für die Verwandlung der organischen Materialien. Bei den Betrachtenden aber lösten die geflickten Objekte gemischte Gefühle aus: Eine weisse Rose, die mit einem roten Faden geflickt wurde, kann als Akt der Bewahrung der Schönheit, aber auch als ein gewaltsamer Eingriff in die Reinheit dieser Blume wahrgenommen werden. Dieser Eingriff symbolisiert also nicht nur eine bestimmte Haltung des Widerwillens gegen altersbedingte Veränderungen des Körpers, sondern auch den Verlust der Unschuld. Zusammengenähte Fruchtschalen mögen manchen als lustig erscheinen und an die Verspieltheit eines Balls erinnern, aber sie evozieren auch grosse Kämpfe gegen die Beschneidung von Frauen und Folter, den Klimawandel und das Recycling. Die Künstlerin verzichtet freiwillig auf eine ozielle Lesart ihrer Praxis, um den Diskurs anzuregen und wie bei einem Experiment mit grosser Bescheidenheit und Geduld nicht nur an das Ergebnis, sondern an den gesamten Prozess der Bedeutungsgebung zu glauben. "In diesem Sinne möchte ich, dass meine Werke als Erinnerung dienen, die Emotionen und das Mitgefühl wecken, die in unseren Herzen verborgen sind. Oder vielleicht wirken sie wie ein Spiegel, der verschiedene Blickwinkel auf das Wesen der Dinge reflektiert. Sehen ist eine Art der Wahrnehmung, und wie man beobachtet, ist eine Aufgabe, die ich den Betrachtenden am liebsten übergeben möchte", erklärt Ying Xu.
Die Kunstkästen als Labor
In den Kunstkästen wird es möglich sein, während der Dauer der Ausstellung die Veränderungen zu beobachten, die einige dieser geflickten Naturgegenstände durchlaufen oder bereits erfahren haben. Es handelt sich um ein wahres Labor, in dem die Betrachter:innen nicht nur ästhetische Verwandlungen, sondern auch Veränderungen in ihrer Interpretation sehen. Begleitet von alltäglichen Gegenständen wie Gläsern, Vasen und Rahmen öffnen sich die Werke von Ying Xu zu unbekannten Territorien und zeigen ungewöhnliche, aber trotzdem heimelige Szenarien. Nur in einem Bild sind die Hände der Künstlerin mit weissen Handschuhen zu sehen. Vielleicht symbolisieren diese Respekt und Zartheit, vielleicht aber auch den Wunsch, zu verschwinden.
Ying Xu's Answers to our Project Questions since 2022:
How would you define your artistic practice?
Stay as original as I could. Everybody has their originality, get into that, finding that is the biggest challenge of an artist , this is the point I was / am working on and It will also be one of the cores of my artistic practice throughout my life. What I want to tell is the most important part, then comes the “how“. How do I present and interpret my works is one aspect, how viewers perceive the work is the other aspect , both together make the works complete, and meaningful. Art is a place where you practice how to be in this world. Through art you learned yourself, you learned about other people other than yourself, about other places, other cultures…
What does it mean to be an artist today and in the past?
I think as an artist we need more than just the curiosity, the courage to break the rules, but also the humility, the capacity to listen, to connect people, and remain the courage to reinvent yourself. Artists keep, make, and transform meanings, their intelligence, lived experience, cultural practices and their relationship to a place, has a great impact to the community and the society. Whether intentionally or not, most of the creative act, the moment of imagination and expression in a place, contributes to that place’s shape and ecosystem. Artists are inherently perseverant. When society pressures people to conform, artists find a way to stay true to themselves and help others find their voices.
What is the feminist capital for you?
It is an interdisciplinary approach and action in solidarity to issues of equality and equity regardless of gender.